22.Januar.2022 - Markus Schulz
Don’t look up
Wieviel Wahrheit braucht die Welt zum Überleben?
Schon seit langem denke ich immer wieder darüber nach, dass in meiner Welt so viel unverbunden nebeneinander stehen bleibt. „Ich für mich und du für dich.“ Das klingt erstmal total gut: Freiheit, selbst zu entscheiden, was zu mir passt. Niemand gibt mir etwas vor.
Und wenn dann doch entschieden werden muss, vielleicht für alle? In einer Krise wie jetzt gerade? Wenn sich Parteien parteiübergreifend möglichst zügig über „Impfpflicht – Ja oder Nein“ einigen müssen – dann ist die individuelle Freiheit eben nicht mehr der einzige, der hinreichende Maßstab.
Auf Netflix wird der Film „Don’t look up“ von Adam McKay derzeit massenweise gestreamt. Eine Geschichte um eine Wissenschaftlerin, die vor dem Aufprall eines Kometen auf der Erde warnt und dafür gnadenlos ausgelacht wird. „Don’t look up“ – schau nicht nach oben. Sie kann es nicht verstehen, dass ihre Mitmenschen diese evidente Wahrheit nicht wahrhaben wollen.
So ähnlich geht es einem Bundespräsidenten, der nicht nachvollziehen kann, wie Menschen die Brisanz des Corona-Virus nach zwei Jahren immer noch nicht verstehen und akzeptieren. Was Wissenschaftler herausgefunden haben, reicht nicht: Du hast für dich eine andere Wahrheit gefunden – auf Telegram oder in einem Video auf Youtube. Ich dagegen höre den Podcast von Prof. Drosten rauf und runter.
Und die, die halbwegs empathisch sind, spüren, wie es sie innerlich zerreißt, dass sie mit manchen Menschen einfach nicht mehr reden können. Wie zwei Welten, die sich nicht mehr begegnen, zwei Realitäten, die sich nicht verstehen. Ich für mich und du für dich.
Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler in Tübingen, hat darüber gerade im Spiegel geschrieben. Dass wir uns verabschieden müssten von manchem, was wir uns postmodern selbstverständlich angeeignet hätten. U.a. müssten wir uns davon verabschieden, dass es ohne Wahrheit ginge. „Es ist an der Zeit, sich im akademischen Milieu beziehungsweise in den Geistes- und Kulturwissenschaften von radikal-konstruktivistischen Ideen und den Spielereien des postmodernen Denkens zu verabschieden“, schreibt der Professor.
Ehrlich gesagt, ich hoffe, dass das schnell passiert. Es kann doch nicht sein, dass die Abstände zwischen Menschen, die eigentlich miteinander leben wollen, immer größer werden. Mir tut es innerlich weh, wenn ich den Umgangston im Deutschen Bundestag höre, wo man sich aus dem einen oder anderen Lager beschimpft und dem Gegenüber die gemeinsame Gesprächsebene entzieht. Bei der Diskussion, wer sitzt neben der AfD kam es mir sogar wie bei der Platzverteilung in der Grundschule vor: „Neben dir sitze ich nicht!“
Wenn die politisch Verantwortlichen so miteinander umgehen, dass mehr Gräben aufgebaut werden als eine Gesprächsebene gesucht, wie will man dann gemeinsam Probleme lösen. Kein Wunder, wenn es dann nur „dein Problem“ und „mein Problem“ gibt, aber eben nicht „unser Problem“ Klimawandel, Pandemie, Rechtsextremismus, Russlandpolitik und vieles mehr.
Nun bin ich ja ein Kirchenmensch. Und wenn ich in meinen eigenen Laden gucke, dann muss ich wohl feststellen: Wir sind sicher ein Teil des Problems, stehen nicht drüber, was uns eigentlich lieber wäre. Wahrheit ist eigentlich unser Leib- und Magenthema. Es ist uns in die Wiege gelegt, Teil unserer Identität. Die Wahrheit steht bei uns in der Verfassung, könnte man sagen – wenn man die Bibel als solche versteht. Sie ist ein Teil unserer DNA. Aber wir haben ein gebrochenes Verhältnis dazu. In unserer Geschichte gab es ziemlich viele Tiefpunkte im Blick auf den Umgang mit Wahrheit. Und damit meine ich nicht die aktuelle Diskussion über die Ehrlichkeit und Transparenz in Fällen sexuellen Missbrauchs, wenn durch Unwahrheit und Vernebeln Täter geschützt und Opfer alleingelassen werden. Schon viel länger waren wir ganz froh, als wir uns dem Zug anschließen konnten, über Wahrheit nicht mehr streiten zu müssen. Das entlastet zuerst einmal enorm. Du kannst deine schwierige Geschichte, die dir andere ja auch immer wieder aufs Brot schmieren (Kreuzzüge, Zwangstaufen, Missionierung) einfach einmal hinter dir lassen und dich distanzieren. Wir haben uns weiterentwickelt. Systemtheorie und Konstruktivismus waren entscheidende Impulse auch für die Kirche. Geschichtlich gesehen hat die Reformation schon ihren Beitrag dazu geleistet, das Individuum mit seiner je eigenen Ansicht zu stärken gegenüber der allgemeingültigen Wahrheit, die für alle gilt. Dein Glaube, dein Verhältnis zu Gott, das steht mit viel evangelischer Freiheit im Zentrum.
Und so sind wir Teil der postmodern-europäischen Kultur und haben sie mit geprägt. Und das macht mich nachdenklich, denn ich frage mich: Was ist jetzt dran? Wenn die Universen, in denen wir medial und leben, so unverbunden nebeneinander stehen. Wenn die einen „Lügenpresse“ und die anderen „Querdenker“ sind, wie kannst du dann noch miteinander reden?
Ich glaube, Bernhard Pörksen hat recht: Ohne Wahrheit geht es nicht. Ein schlichtes Verordnen der Wahrheit, per Doktrin oder qua Amt, geht aber gar nicht. Mein Empfinden dafür, ob etwas authentisch ist oder nicht, ist viel zu stark, als dass ich mir einfach etwas vorschreiben ließe. Hmm, und dann?
Eine Stärke der christlichen Wahrheit ist für mich, dass es um eine Person geht, nicht um ein Buch, nicht um einen Satz, der ewig gilt. Die Wahrheit, wenn sie so verstanden wird, geschieht – und zwar in Begegnung. Erst mit dem Gegenüber zeigt sich, was wahr ist. Das finde ich absolut aktuell! Wo die Realitäten nicht mehr verbunden sind und die Begegnung eben nicht stattfindet, da kann sich gar nicht zeigen, was wahr ist. Ich stelle mich ja dann der der anderen Wahrnehmung gar nicht – wie im Film: „Don’t look up“. Nicht hinschauen!
Doch, hinschauen ist angesagt. Aushalten ist angesagt. Und da ist Jesus ein echtes Vorbild. Manchmal hat er einfach die Klappe gehalten, zugehört, war präsent, hat sich nicht entzogen. Mitten in strittigen Fragen hat er Position bezogen, immer mit dem Menschen im Fokus. Und dann, in der Begegnung zeigte sich die Wahrheit.
Ach so, und „Don’t look up” war für Jesus sowieso gar keine Option. Im Gegenteil.