Kontor Konkret

16.April.2021 - Markus Schulz

Zweckmäßig unverzweckt

Der Tag ist gut durchgeplant: Morgens Homeschooling mit den Kids; mittags abwechslungsreiches Familien-Programm, damit alle rauskommen; abends nachholen, was an Arbeit liegengeblieben ist; nachts je nach dem: weiterarbeiten oder schlafen.

Pandemie-Leben ist anstrengend, keine Frage. Aber liegt nicht etwas hinter diesem aktuellen Erleben, das schon viel älter ist als die ein Jahr alten Entwicklungen?

 

Eigentlich ist es die Pest, nicht die Corona-Pandemie, die die moderne Gesellschaft und ihr Lebensgefühl geprägt hat, schrieb Marianne Gronemeyer 1993 in „Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit“.[1] Was wenn diese heftige Pandemie im 14. Jahrhundert, wenn der Schwarze Tod die Menschheit so sehr erschüttert hätte, dass daraus eine neue Epoche entstanden wäre?

 

Das jedenfalls nimmt sie an. Die Moderne und damit das Lebensgefühl von Menschen wie dir und mir sei daraus entstanden. Die Erfahrung eines grauenhaften, allumfassenden Todes prägte letztlich das Leben der Menschen und ließ uns nach Sicherheiten suchen, forschen und alle Unsicherheiten möglichst weit aus dem Leben herausdrängen. Und weil dem Leben nur das Leben bleibt, also nur die ganz physische Zeitspanne des seelisch-körperlichen Lebens auf diesem Erdball, muss die Zeit genutzt werden bis zur letzten Sekunde.

 

Im Homeoffice spüren Menschen diese innere Einstellung derzeit ganz massiv. So schön es ist, von zuhause aus arbeiten zu können – die innere Unsicherheit, ob es schon reicht oder nicht noch mehr zu optimieren wäre, mehr Zeit zu nutzen ist, treibt mehr und mehr und immer mehr an.

 

Für junge Menschen, die 2020 nach dem Abi nicht sofort ins Ausland konnten, scheint es ein verlorenes Jahr zu sein. Was sollen sie auch in ihren Lebenslauf schreiben? Corona-Auszeit? Intensive Zeit in der Herkunftsfamilie?

 

Optimieren und auskosten, die Unsicherheiten ausmerzen – das ist auch die Haltung gegenüber der Natur, die aus der Erfahrung des Pesttodes laut Marianne Gronemeyer entstand. Sie wird nicht bestaunt, die Natur, sondern erforscht, um sie zweckmäßig nutzen und ihre Bedrohung begrenzen zu können. Die Auswirkungen erleben wir hautnah im Klimawandel als globalem Phänomen.

 

Eine Erschütterung muss es darum sein, wenn plötzlich die beherrschte Natur wieder pandemisch bedrohend wird und nicht vorhersagbar und in ihre Grenzen verwiesen dem menschlichen Optimieren dient.

 

Ein Bild, eine Skulptur, ein Musikstück holen die Seele oft ab aus der zweckmäßigen Optimierung und bieten Raum für den anderen Blick auf das Sein. „Gott ist gegenwärtig, lasset uns anbeten.“ „Schlagt die Augen nieder, kommt, ergebt euch wieder.“ Solch ein unverzweckter Blick auf die Schönheit liegt letztlich auch in der Meditation und dem Gebet. Gott anzuschauen – ohne damit etwas erreichen zu wollen – das ist die tiefste innere, mystische Haltung eines Betenden. Gerhard Tersteegen beschreibt in seinem Lied diese andere Haltung, die gerade nicht zweckmäßig ist, sondern zugewandt, entdeckend, zulassend. Sie sucht die Begegnung mit dem Größeren und findet darin erst sich selbst. Sie schafft große Freiheit. Vor allem befreit sie von der Angst, nicht alles optimal zu machen und kann mit manchen Unsicherheiten leben. 

 

Große Krankheiten bringen neue Epochen hervor, meint Marianne Gronemeyer. Wer weiß, was nach Corona kommen wird? Prophetisch-analytisch sind auch viele andere der Meinung, dass nachher nicht mehr wie vorher sein wird. Vielleicht wird die Dimension des menschlichen Lebens, die in Mystik und Kunst, in unverzweckter Anschauung der Schönheit liegt, Raum einnehmen, den sie jetzt nicht hat. Sehnsucht danach ist jedenfalls da.

 

 

[1] Gronemeyer, Marianne. Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit. 5. unv. Auflage 2013.

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